MärchenMörderMysteries


Der gestiefelte Katz

Leseprobe

Eines Nachts

Es schienen alle zu schlafen im Schloss. Nur aus dem Zimmer ganz oben im Nordturm drang noch Licht durch die Türritze. Ein Raum, der stets verschlossen war, ganz egal, ob sich jemand in ihm befand oder er leer war. Niemand sollte ihn betreten, außer die beiden, die ihn eingerichtet hatten.

Was in dem Raum selber verborgen lag, davon würden die meisten von uns lieber nichts erfahren. Und auch die, die davon erfahren hatten, hätten lieber nichts von ihm gewusst, zumindest konnten sie aber niemandem mehr davon berichten. Dafür war gesorgt worden.

Trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, dass immer wieder Gerüchte aufkamen über die Dinge, die sich hier angeblich abspielten. Gerüchte über Zauberei, Schwarze Magie und möglicherweise noch üblere Teufeleien, von denen die Mauern des Schlosses zu hätten sprechen können, wenn sie denn sprechen können hätten. Doch sie konnten es nicht. So wie die Toten, die im umliegenden Wald vergraben waren, nach denen aber niemand zu suchen wagte, weil keiner todesmutig genug gewesen war, sich dem Schloss zu nähern, und sein Schicksal herauszufordern. Selbst streunende Tiere machten einen weiten Bogen um das Anwesen, ja nicht einmal die Hyänen wagten es, sich über die herumliegenden Kadavern - man wusste nicht genau, ob es sich um Tiere oder Menschen handelte - herzumachen. Zu sehr lag hier der Geruch nach Bösem und Verderben in der Luft.

Nicht dass man einen besonderen Grund gehabt hätte, sich hierher, mitten in den Wald, zu verirren. Es sei denn, man war ein Lieferant, der die Einwohner des verborgenen Schlosses mit Lebensmittel oder anderen Gütern belieferte. Und wenn man als Handwerker oder Händler so eine Anfrage erhielt, dann schickte man doch lieber den Lehrling oder Handlanger, im besten Fall den Gesellen, nie fuhr man selber dorthin. Oft genug war es schon vorgekommen, dass eine Lieferung oder eine Arbeit die Bewohner des Schlosses verärgert hatten, weil sie ihren Ansprüchen nicht genügten. Und oft genug hatte man den Handlanger dann nicht mehr zu Gesicht bekommen.

Doch noch weniger wagte man es, den Anfragen - die eigentlich als Befehle zu verstehen waren - nicht Folge zu leisten. Zu groß war die Angst, den Zorn der Bewohner heraufzubeschwören und selbst Opfer der Schwarzen Magie zu werden.

Die beiden Bewohner des Schlosses bezeichneten sich selbst als Wissenschafter. Wissenschafter, die sich gewisser Zauberkünste bedienten, um mit deren Hilfe zur Erkenntnisgewinnung zu kommen. Ihre besonderen Forschungsgebiete waren die Beschwörung von Toten und die Gestaltwandlung. Auf beiden Gebieten hatten sie es zu einer gewissen Perfektion gebracht. Wobei auch ihre alchemistischen Fähigkeiten nicht zu unterschätzen waren; einen guten Teil ihres beträchtlichen Vermögens verdankten sie der Tatsache, dass sie vor einigen Jahren herausgefunden hatten, wie man Kupfer zu Gold verwandeln konnte.

Die beiden Brüder waren Metamorphe. Beiden gelang es mühelos, sich innerhalb von Sekunden in ein anderes Lebewesen zu verwandeln. Die Herausforderung war dabei nicht die Geschwindigkeit, in der das geschah, sondern die Größe des Wesens, in das man sich zu verwandeln gedachte. Je mehr diese Größe von der eigenen Körpergröße abwich, desto schwieriger gestaltete sich die Metamorphose. Die Verwandlung vom Menschen zum Wolf oder Bären war ein Leichtes, wollte man allerdings zur Maus oder gar zu einem Insekt werden, so stellte erforderte dies eine gewisse Raffinesse, von der der um einige Jahre jüngerer Bruder mehr besaß als sein älterer Bruder, der eigentliche Schlossherr, dem diese Überlegenheit sehr missfiel und der daher seit langer Zeit besessen daran arbeitete, diesen Zustand zu ändern und wieder an erster Stelle zu stehen.

Oft arbeitete er nachts, wenn der Jüngere längst zu Bett gegangen war, weiter, stürzte sich wie ein Besessener in seine Forschungen und wälzte bis zum Morgengrauen uralte Folianten, immer nach der Suche nach der letzten, ultimativen Erkenntnis, nach einem Zauberspruch, einer Beschwörungsformel, die ihn und seinen Ruf unsterblich machen würden, vor allem aber dazu dienen sollten, seinen Bruder zu übertreffen. Dabei wagte er sich so weit ins Reich der Dunkelheit vor, dass er manchmal meinte, den Geruch des Teufels selbst oder zumindest einer der Hohen Dämonen verspürt zu haben. Bald schien seine Besessenheit keine Grenzen mehr zu kennen.

Doch heute Nacht war er trotz vorgerückter Stunde nicht alleine. Er hatte seinen Bruder zu sich ins Turmzimmer gebeten, um ihn an einem seiner Experimente teilhaben zu lassen.

"Ich weiß, dass du es nicht gutheißt, dass ich mich mit der Anrufung von Dämonen beschäftige. Dennoch glaube ich, dass es mir - uns - einmal von großem Nutzen sein wird, in der Lage zu sein, sich die Kreaturen aus der Unterwelt zu Dienste zu machen", begann er. "Ist das nicht letztendlich auch das Ziel unserer Studien?"

Der Jüngere runzelte die Stirne. Er selbst war zwar auch Nekromant und hatte auch versucht, den einen oder anderen Niederen Dämon zu rufen, doch hielt er es für zu gefährlich, sich mit einem der Höheren einzulassen. Ein Niedriger Dämon, den man angerufen hatte, war mühelos unter Kontrolle zu bringen und konnte auch meist problemlos wieder in die Unterwelt entlassen werden. Er bezweifelte aber, dass einer der Höheren sich genauso leicht beherrschen und dem eigenen Willen unterwerfen ließ, und er teilte seinem Bruder seine Bedenken diesbezüglich auch mit.

"Du spielst nicht nur mit dem Feuer, du spielst mit deinem Leben", warnte er ihn deshalb. "Und auch mit meinem Leben. Denn einmal entfesselt, wird einem Höheren nicht so leicht Einhalt geboten werden können. Und ich weiß ganz genau, dass du es auf eine der Höheren abgesehen hast. Wegen einer minderen Sache hättest du mich erst gar nicht hierher bestellt."

"Wer unser Handwerk richtig ausüben will, der darf sich nicht mit Geringem zufrieden geben, der muss die Herausforderung suchen. Du weißt, dass ich die Gefahr nicht scheue. Sie ist der Preis für den Erfolg. Ich denke, dass ich diesem Erfolg nun einen großen Schritt näher gekommen bin. Und ich möchte, dass du im Moment meines Triumphes an meiner Seite bist. Haben wir nicht von Jugend an hier in diesem Raum miteinander studiert? Waren gemeinsam stolz, als es uns gelang, unseren ersten Toten ins Reich der Lebenden zurückzuholen? Oder als wir die ersten Schritt auf dem Weg hin zu Metamorphen machten? Die ersten Versuche, die Gestaltwandlungskunst zu erlernen?"

Undur seufzte. Er wusste nur zu gut darum, dass sein älterer Bruder ein Besessener war. Ihn von einer Sache abzubringen, war unmöglich, wenn er sie sich erst einmal in den Kopf gesetzt hatte. Vielleicht war es also im Anbetracht der Gefährlichkeit des Vorhabens besser, an seiner Seite zu bleiben und ihm beizustehen, sollte die Situation aus dem Ruder geraten.

"Nun gut", sagte er deshalb. "Da ich annehme, dass du dich von mir nicht umstimmen lassen wirst, beginne mit deinem Zauberwerk. Ich hoffe inständig, dass du weißt, was du tust, und dass du denjenigen, den du zu rufen versuchst, nicht unterschätzt."

Xerak lächelte. Für einen kurzen Moment lang hatte Undur den Eindruck, Bösartigkeit in den Augen seines Bruders wahrgenommen zu haben. Er fürchtete um Xeraks Seelenheil, fürchtete, dass er sich schon zu lange und zu intensiv mit den Mächten der Unterwelt gespielt, sich sogar bereits bis zu einem gewissen Grad mit ihnen eingelassen hatte.

"Fürchte dich nicht", entgegnete ihm dieser. "Ich werde Herr der Lage sein."

Daraufhin begab er sich zu dem großen Holztisch, der in der in der Nähe des einzigen Fensters im Turm stand und auf dem er bereits einen aufgeschlagenen Folianten und die für das Ritual nötigen Utensilien vorbereitet hatte. Aus einem großen Glasbehälter entnahm er eine in Einbalsamierungsflüssigkeit eingelegte Leber. Sie sah frisch aus. Und menschlich. Sorgfältig platzierte er sie im Zentrum eines Dreiecks, das er auf dem Boden aufgemalt hatte. Im Inneren des Dreiecks und außen an den drei Spitzen waren magische Runen aufgemalt.

Undur kannte die meisten dieser Schriftzeichen nicht. Nur die drei Runen, die an den Spitzen des geometrischen Körpers aufgemalt waren, konnte er deuten. Sie standen für die drei Diener einer der Höchsten, des hinterlistigsten und verschlagensten des Dreiergespanns, des Schlangendämons Apophis. Wenn auch nur der Dritte in der Hierarchie der Höchsten, so überragte er Undurs Meinung nach die anderen, was Falschheit und Niedertracht angingen. Seine Gefährlichkeit bestand vor allem darin, dass er seine Umgebung in vollkommene Dunkelheit versetzen konnte. Hatte sein Opfer in seiner Blindheit die Orientierung verloren, so war es ein Leichtes für ihn, es zu hypnotisieren und - ganz nach seinem Gutdünken - zu töten, zu manipulieren oder, was noch schlimmer war, an sich zu binden, um ihm als Sklave zu dienen oder zu belustigen, indem er es ständiger Folter aussetzte. Die Qualen der Gepeinigten waren seine Nahrung und sein Hunger war schier unerschöpflich.

Seine drei Diener waren Klone seiner selbst, da er niemandem vertraute. Verschlagen wie er war, vermutete er diese Eigenschaft auch bei allen anderen.

Undur hatte in den Folianten zahlreiche Bilder des Apophis gesehen. Er war ein gigantischer Dämon. Seine Diener ähnelten ihm im Aussehen, waren aber im Vergleich zu ihm nahezu winzig. Sie hatten in etwa die Länge eines Menschen, und Undur zweifelte nicht daran, dass sie auch einen ganzen Menschen in einem Stück verschlingen konnten.

Dem jüngeren Bruder schauderte bei dem Gedanken daran, was Xerak vorhaben konnte. Wollte er einen Diener des Apophis herbeirufen? Denn er hoffte, dass es nicht der Schlangendämon selbst war, den er aus der Unterwelt hervorholen wollte.

Xerak hatte unterdessen mit seinem Ritual begonnen. Um die Leber hatte er in der Zwischenzeit einen Kreis glühender Kohlen gelegt. Nun begann er, aus dem Folianten die Beschwörungsformel, die er für dieses Ritual vorbereitet hatte, vorzulesen. Die Laute der Sprache, derer er sich bediente, waren guttural. Sie klang alt. Und böse. Die Runen im Inneren des Dreiecks begannen zu leuchten.

Undur wurde heiß und gleichzeitig begann er vor Kälte zu zittern. Er konnte nicht in Worte fassen, welche Gefühle seinen Körper durchzuckten.

In dem Augenblick, als sein Bruder seine Beschwörungsformel zu Ende gesprochen hatte, begann der Turm zu beben. Im Inneren des Dreiecks tat sich der Boden auf. Die Leber, die an dieser Stelle gelegen hatte, wurde von dem Spalt verschlungen. Im gleichen Moment wurde es stockdunkel in Turm. Sämtliche Kerzen verloschen, und auch die Sterne und der Vollmond, deren Licht kurz zuvor noch durch das winzige Fenster eingedrungen war, vermochten den Raum nun nicht mehr zu erhellen. Die Dunkelheit war so vollkommen, wie Undur sie noch nie erlebt hatte. Selbst in den unbeleuchteten Kellerräumen, tief unter dem Turm, war so eine undurchdringbare Schwärze nicht vorstellbar. Und obwohl er niemandem hätte erklären können wieso, spürte er, dass diese Dunkelheit böse war.

Bewegungsunfähig verharrte er an der Stelle, an der er das Ritual beobachtet hatte. Wäre er auch Herr seines Körpers gewesen, er hätte ohnehin nicht gewagt, einen Schritt zu machen. Er hatte vollkommen die Orientierung verloren, und zu groß war die Gefahr, in den Erdspalt zu fallen.

Plötzlich wurde der Turm von einem lauten Zischeln erfüllt. Man konnte nicht ausmachen, wo die Quelle dieses Geräusches war. Das Zischeln schien von überall zu kommen, aus dem Spalt im Boden, doch gleichzeitig brach es sich an allen Wänden und an der Decke, die meterweit über ihnen lag. Und zwischen den zischelnden Lauten ließen sich nach und nach Wörter ausmachen, Wörter, die in ihrer Sprache gesprochen wurde. Zuerst verstand er nur einzelne von ihnen, doch dann wurde ein erster ganzer Satz daraus.

"Wer bist du, Unwürdiger, der du es wagst, Apophis anzurufen? Ein Nekromant, ein Seelenbeschwörer? Bist du dir bewusst, wonach ich verlange?" fragte die Stimme.

"Du hast die Leber bereits erhalten", hörte Undur seinen Bruder antworten.

"Doch du Narr weißt hoffentlich auch, dass ich nicht eher in die Unterwelt zurückkehre, bis ich auch das Zweite, das ich begehre, dorthin mitnehmen kann."

"Du magst mich als Narr betrachten, doch das bin ich nicht. Es ist ein menschliches Herz, nach dem du verlangst. So gehe hin und hole es dir!"

Undur hatte das Gefühl, dass die Dunkelheit mit einem Mal noch schwärzer geworden war. So schwarz, dass selbst alle Geräusche im Turm verstummten. Auch das Zischeln war nicht mehr zu hören. Es herrschte nun auch vollkommene Stille. Fast so als wäre die Welt um ihn herum verschwunden.

In derselben Nacht - nur ein paar Stunden später - hält ein Fuhrwerk vor dem Friedhof von Keralia. Seine Ladung ist ein schwarzer Sarg, auf dessen Deckel der Kopf einer Schlange eingeschnitzt ist.

Schnaufend bleibt die alte Mähre, die den Karren zieht, vor dem verrosteten Eingangstor stehen. Zwei dürre Männer, ein kleiner und einer von durchschnittlichem Wuchse, die noch klappriger als die Mähre wirken, laden die Leichentruhe ab und tragen sie in die hintere Ecke des Friedhofs, dorthin, wo die Anonymen und Ausgestoßenen ihre letzte Ruhestätte finden. Oder zumindest einen Platz, an dem ihre Geister genauso rastlos herumirren, wie sie selbst es zu Lebzeiten getan hatten. Beobachtet man die zwei Männer bei ihrem Tun, gewinnt man den Eindruck, dass sie beinahe unter der Last zusammenbrechen.

Gleich neben der Friedhofsmauer laden sie den Sarg ab. Mit Hilfe von zwei Schaufeln beginnen sie überraschend behände ein Loch auszugraben. Als es ihnen tief und breit genug erscheint, versenken sie den Sarg darin. Ohne ein Gebet zu sprechen oder ein anderes religiöses Ritual zu vollziehen, schaufeln sie die ausgehobene Erde wieder zurück in das Loch. Nach getaner Arbeit wischt sich der Kleine mit einem vor Schmutz starrenden Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Danach verlassen die beiden den Totenacker wieder genauso unauffällig wie sie ihn betreten hatten. Nur der Hügel aufgehäufter Erde auf dem frischen Grab zeugt noch von ihrer Tätigkeit.

Kaum ist das Fuhrwerk außer Sicht, huschen zwei Gestalten aus ihrem Versteck hinter einem verwitterten Grabstein hervor. Auch sie halten Schaufeln in ihren Händen. Doch sind diese dazu gedacht, die Totenruhe zu stören.

Hieronymus von Klevert ist nicht der hellste Stern am Firmament, doch hat er die Beziehungen, die Katz bräuchte, um die Art von Karriere zu machen, die ihm selbst wegen seines niederen Standes verwehrt bleibt. Wie es der Zufall will, ist gerade das Amt des Innenministers vakant. Und der ernennt ja bekanntlich den Polizeipräfekten, eine Position im Königlichen Verwaltungsapparat, die wiederum Katz gut zu Gesicht stehen würde. Listig ersinnt er deshalb einen Plan, der von Klevert ins Ministeramt hieven soll. Alles, was er dazu benötigt, sind neue Stiefel. Und einen Dämon, den sein Durst nach Rache an das Reich der Lebenden bindet ...

Der gestiefelte Katz ist der Auftakt der von Grimms Märchen inspirierten Fantasy-Reihe "MärchenMörderMysteries" rund um den Polizeipräfekten Aleph Katz, der in Keralien für Recht und Ordnung sorgen soll. Kein leichter Job für Katz, denn den Sklavenhändlern, Schwarzbrennern, Hexen, Nekromanten und Dämonen, die sich auf dem Zeitlosen Kontinent tummeln, sind die Bestimmungen des Königlichen Gesetzeskodex herzlich egal.


Im Gänsemarsch in den Tod

Hier ist er, der zweite Fall für Aleph Katz, den frischgebackenen Polizeipräfekten von Keralien, das auf dem Zeitlosen Kontinent liegt. Und diesmal, da gilt es ein paar Ratten zu retten, die der König aus seiner Hauptstadt haben möchte. Er gibt Katz drei Tage Zeit, eine neue Unterkunft für sie zu finden, irgendwo anders, nur weit weg von der Stadt. Doch als Katz sie in ihr neues Zuhause bringen will, da sind die Kinder aus ihrem Versteck verschwunden, und Katz ist sich sicher, dass der Flötenspieler, der sie aus der Stadt gelockt hat, und die böse Hexe, die sie nun bei sich versteckt hält, nichts Gutes im Sinn haben. Er muss die Kinder retten, bevor es zu spät ist! 


Schneeflöckchen und Immertod

Erscheint voraussichtlich am 7.7.2022


Spieglein, Spieglein auf dem See

Erscheint voraussichtlich im Dezember 2022

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